Die vernebelte Bühne ist anfangs durch ein paar graue Blöcke als Friedhof gerade noch zu sehen. In der Mitte sitzt leicht gebeugt und vom Scheinwerfer angestrahlt ein älterer Mann auf einem Grab. Mit dem Beginn seiner Rede springt er sofort hinein in das Chaos deutscher Geschichte. Das ist zunächst nicht leicht verständlich. Der Rauch lichtet sich ein wenig, und mit dem Bühnenbild klärt auch der thematische Hintergrund zunehmend auf. Ein paar Namen werden genannt: Mölders, Winterfeldt, Ewald Christian von Kleist. Personen der deutschen und preußischen Militärgeschichte. Irgendwann fällt auch der Name Marga von Etzdorf. Sie alle sind auf einem Berliner Friedhof versammelt, durch den vor wenigen Jahren noch eine Mauer ging. Und einige von ihnen kommen zu Wort…

Fliegerromantik am Rande des Nationalsozialismus: Uwe Timms neuer Roman
Die Flugpionierin Marga von Etzdorf (1907 – 1933) ist als eine der wenigen Frauen auf dem Berliner Invalidenfriedhof begraben. Ihr kurzes Leben und ihr mysteriöser Selbstmord 1933 nach einer Zwischenlandung in Syrien bilden den Aufhänger für Timms Roman „Halbschatten“. Dabei geht es um den Traum vom Fliegen, um Ruhm, um Abstürze, um Liebesgeschichten – und natürlich um deutsche Geschichte. Verbindendes Element und eigentliche Hauptsache ist dabei der Friedhof selbst. Wie bei seinen letzten Buchveröffentlichungen auch, betreibt Timm dabei eine eigene Form der Geschichtsrekonstruktion, bei der viel mit Wahrscheinlichkeiten gespielt wird und Realität und Fiktion nebeneinander existieren.

„Halbschatten“ ist erst im August 2008 erschienen und stilistisch eher ungewöhnlich für diesen Autor. War er vorher eher als Erzähler klassischer Prägung bekannt, handelt es sich hier um ein Wirrwarr unterschiedlicher Stimmen: Insgesamt 25 Tote kommen zu Wort. Manche davon sind Erfindungen des Autors. Dadurch hat der Stil von Timms neuestem Werk etwas ungewohnt Experimentelles, das sich stellenweise dem Ton Uwe Johnsons annähert, der vor allem in seinen „Jahrestagen“ auch konzeptionell ähnlich vorging.

Die Bühnenversion: Durch den Nebel der Geschichte
1998 bereits hatte mit „Die Entdeckung der Currywurst“ das Freie Werkstatt Theater eine Dramatisierung von Uwe Timm präsentiert. Kaum ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung von Timms neuestem Roman ist nun also bereits das zugehörige Theaterstück auf der Bühne zu sehen. Die Inszenierung von Johannes Kaetzler und Gerhard Seidel verzichtet dabei auf unnötige Experimente, was angesichts der komplexen Romanvorlage nur folgerichtig ist. Großen Wert gelegt wurde auf die Lichtgestaltung. Nebeleffekte und unterschiedliche Lichtquellen setzen hier besonders deutliche Akzente. Der Zustand zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit betont genau das spekulative Element, das im Titel von Timms Roman bereits angesprochen wird.

Das Stück beschränkt sich dabei hauptsächlich auf fünf Lebensgeschichten, aber trotz der Kürzungen fällt es manchmal nicht ganz leicht, den einzelnen Erzählsträngen zu folgen. Hervorgehoben wurde die Rolle des Fräulein Erpenbecks, gespielt von Ingrid Berzau. Besonders überzeugend war die Verkörperung des Schauspielers und Stimmenimitators Anton Miller, von Peter Liebaug als fröhlicher Narr portraitiert, der gleich mehrfach nach seinem letzten Witz verhaftet wird.  Die von Alexandra Sydow mit betonter Naivität gespielte Marga von Etzdorf allerdings scheint bei dem Stück nicht die Hauptrolle zu haben: Ihre unerfüllte Liebesgeschichte wirkt verglichen mit dem Rest des Inhaltes etwas zu süßlich und blass. Der eigentliche Hauptdarsteller jedenfalls bleibt in der Aufführung (wie auch in Timms Roman) der Friedhof selbst: Hier sind NS-Größen neben zivilen Opfern begraben, hier führte einst die Berliner Mauer durch, hier lässt sich aus unendlichen Fragmenten fragmentarische Geschichte machen. In diesem Sinne hält sich die Dramatisierung recht genau an die Vorlage und bildet so eine sinnvolle Ergänzung zu Timms Roman.

Edgar Naporra für report-k.de/ Kölns Internetzeitung
[Foto: Meyer Originals]