Bertha Sander ist die einzige Frau, deren Wirken in dieser Ausstellung gezeigt wird. Ihre Karriere als Innenarchitektin wurde durch das NS-Regime beendet; im englischen Exil konnte sie an ihre Erfolge nicht mehr anknüpfen. Sander starb vereinsamt in einem Pflegeheim. Das NS-Dokumentationszentrum besaß bislang nur einen Teilnachlass von Bertha Sander, aus dem einige Objekte in der Ausstellung gezeigt werden. Noch bis zum 5. September 2010 steht die Ausstellung, die Lebensläufe und Werke von Bertha Sander und weiteren Kölner jüdischen Architekten zeigt, interessierten Besucherinnen und Besuchern offen.

Ulla Rogalski schildert ihre Geschichte mit der „Bertha-Kiste“:
„Ein Zufall: Im April dieses Jahres gehe ich daran, meine sogenannte "Bertha-Kiste" nach Jahren wieder zu sichten. Mein Vorsatz: In nächster Zeit will ich schauen, ob ich noch etwas aus diesem "ausgeliehenen" Material, dem Nachlass einer jüdischstämmigen Innenarchitektin aus Köln, erarbeiten und publizieren kann. Und wo kann dieses Material später sinnvoll eine "Heimat" finden? Einige E-Mails später steht der Kontakt zu Frau Dr. Becker-Jákli vom Kölner NS-Dokumentationszentrum. Mit nächster Post kommt von dort eine Einladung zur Ausstellungseröffnung "Köln und seine jüdischen Architekten".

Welch ein Zufall: Auf der Karte ist Bertha Sander als einzige Frau in einer Männerriege abgebildet. "Meine" Bertha, von der mir meine Heidelberger Nachbarin Icki Franziska Haag Jahre lang berichtet hatte! Der Anfang der Geschichte: 1988 fasziniert mich eine leichthändige Sesselzeichnung, die unter Berthas Namen in einem kleinen Katalogheft des Victoria&Albert Museums in London abgebildet ist. Welche Eleganz, welche Qualität! Ich erfahre von Icki Haag, dass Bertha Sander ihre Arbeiten Mitte der 1980er Jahre in dieses Museum gegeben habe und jetzt in einem privaten Altenheim außerhalb Londons lebe. Verbittert und mit ihrem Schicksal hadernd pflege sie keine Kontakte mehr. Sie mag mich nicht treffen, um von ihrer Arbeit zu berichten.

Der Nachlass im Victoria & Albert Museum London: In den 1990er Jahren, nach Berthas Tod im Alter von 89 Jahren, gehe ich ihrem Nachlass vor Ort nach. Frau Haag händigt mir die Übergabelisten an das Museum aus. Das meiste lagert in den "V & A Archives of Art and Design", wo auch die Arbeiten der Irin Eileen Gray untergebracht sind, der heute berühmten "Dark Lady of Design". In mehr als 9 grossen Schubladen liegen Berthas Arbeits-Zeugnisse und Bestätigungen, zahlreiche Entwurfszeichnungen und Fotos von
Einrichtungsgegenständen, etliche Tapeten- und Stoffentwürfe. Dazu Aquarelle und Skizzen zu Mode, Kostümen, Bühnenbildern. Auch ein Buch von Clara Sander, ihrer Mutter, geschrieben und von Bertha illustriert. In den Archiven liste ich die wichtigsten Bestände mit Belegfotos auf. Die magische Person Dagobert Peche: Die elegante Sessel-Zeichnung liegt zusammen mit Bertha Sander-Entwürfen im Print Room des renommierten Museums und entpuppt sich durch die Signatur zweifelsfrei als Werk des Wiener Gestalters Dagobert Peche.

Er war durch seinen Architektenfreund Philipp Häusler, der Bertha in Gestaltung unterrichtete, vor und nach 1920 mehrmals in Köln, logierte im aufgeschlossenen Haushalt der Familie Sander. Das belegen Fotos und Postkarten. Der hoch begabte Wiener, den Josef Hoffmann, der Gründer der Wiener Werkstätte zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, starb 1923 im Alter von 36 Jahren. Die drei erwähnten Peche-Briefe von 1922 an die damals 21-jährige Bertha ("Liebes Fräulein") machen wir in der Library des V&A ausfindig, zusammen mit einigen privaten Fotos und der Todesanzeige von Peche.

Sofort nach seinem Tod zog die Kölner Innenarchitektin nach Wien und arbeitete sechs Monate lang für die Wiener Werkstätte, hauptsächlich als Koloristin in der Textilabteilung. Ihr Leben lang schwärmte sie für den eleganten Österreicher. Bis zu ihrem Tode hing sein Foto über ihrem Bett. "This is Dagobert Peche" steht auf der Rückseite. "Dagobert war einfach wunderbar!" erzählte sie immer wieder begeistert. Eine kurze Karriere: Bertha Sanders innenarchitektonischer Nachlass besteht aus zwei nur kurzen Schaffensperioden. Das ist ihre selbständige Tätigkeit in Köln von ca. 1924 bis 1926. Die Jahre bis 1930 verbringt sie wegen Tuberkulose in verschiedenen Schweizer Sanatorien. Anschließend startet sie dank der guten Kontakte in Köln wieder neu.

Sie richtet Arztpraxen und Wohnungen ein, entwirft Möbel, Leuchten und Tapeten. Ab 1934 darf sie, die niemals religiös war, nur noch für Juden arbeiten. Für das Israelische Asyl Köln entwirft sie u. a. ungewöhnliche Türgriffe (Original im V & A – Metall Work Departement) und einen klappbaren Nachttisch (Zeichnung in den V & A Archives of Art and Design).

1935 waren die Reisepässe von Clara und Bertha Sander verschwunden. Als sie neue abholen, sagt der Beamte mit Nachdruck: "Sie haben doch schon lange keine schöne lange Reise mehr gemacht, tun sie das doch mal wieder." Anfang 1936 folgt die Emigration nach London. Das dortige Arbeitsverbot für Ausländer und die spätere Pflege der Mutter sind das Ende von Berthas kurzer, viel versprechender Karriere. Über sich selbst sagt Bertha später: "I was not very lucky in my life." Der Koffer vom Dachboden: Nach meinem Besuch in Justins, ihrem schönen, kleinen, privaten Altenheim südöstlich von London und Gesprächen mit dem engagierten Besitzerpaar wird mir endgültig klar, dass Berthas Geschichte tragisch und vielschichtig ist. Aus einem Koffer vom Dachboden des Altenheims suche ich Jahre nach ihrem Tod noch viele persönliche Dinge heraus, die Berthas Erbnehmern nicht wichtig waren. Alles wird aufgelistet: u. a. viele Familien- und Erinnerungsfotos, das rotsamtene Gästebuch von Großmutters Villa Mosella in Spa (1. Eintrag 1901), das Tagebuch des 1924 verstorbenen Bruders Otto, die Memoiren der Mutter, ein paar Tapeten-Reste, mehrere Fotoalben und Briefe aus der Sanatoriumszeit, etliche Zeitschriften von 1924 – 1926 mit Textbeiträgen von Bertha zu innenarchitektonischen Themen und ihren Möbelentwürfen,  beispielsweise für Kindermöbel. Hinzukommen ihre Skizzenbücher, Kunst- und Einrichtungszeitschriften, Bücher und Zettel, die sie bis zuletzt aufbewahrt hatte. Ihre Korrespondenz mit dem V & A, ihr selbst geschriebener Lebenslauf, eine Bescheinigung von Philipp Häusler, Kondolenzbriefe zum Tod ihrer Mutter, der Stammbaum ihres Pekinesen…

Ich erfahre von den Altenheim-Inhabern Ted und Jane einiges über Bertha und ihr schwieriges Naturell. Auch Icki Haag und alte Freunde von Bertha hatten mir darüber in Heidelberg berichtet. Ihr Arzt im Altenheim, Dr. Lewis, konstatierte "Das ganze Problem, auch der psychischen Krankheit, wäre nicht, wenn sie hätte im Beruf bleiben können." Der Stand der Dinge…: Bei mir bleibt danach Berthas Geschichte erst einmal liegen, damit auch die fotografische Bestandsaufnahme aus dem V & A, ihr vielschichtiges Nachlassmaterial aus Justins, meine Gesprächsnotizen von deutschen Freunden. Berthas ganze Geschichte ist zu groß für mich. Ich habe Innenarchitektur studiert, interessiere mich sowohl für Avantgarde Design wie für die Geschichte des modernen Designs. Zu diesen Themen und anderen habe einiges recherchiert und geschrieben. Heute habe ich Zeit, alle meine "Bertha-Schätze" nochmals mit Abstand zu sichten und zu archivieren. Vielleicht entsteht dabei oder dadurch noch eine Geschichte oder künstlerische Arbeit. … und ihre Zukunft: Eine große Freude ist für mich das lebhafte Interesse der Kölner Ausstellungsmacher, als ich Ende Juli "meine" Geschichte im NSDokumentationszentrum erzähle und einige "meiner" Dokumente zeigen kann. Frau Dr. Becker-Jákli und Herr Dr. Müller entscheiden spontan, die Ausstellungsvitrine von Bertha Sander in der noch bis 5. September laufenden Ausstellung mit Ergänzungen aus meinem Fundus anzureichern. Zu sehen sind jetzt zusätzlich: ein kleines Aquarell – wohl ein Selbstportrait, ein Portraitfoto von 1920 – Bertha in einer Bluse aus Wiener Werkstätten-Stoff, ein Foto eines Aquarells einer Frauenfigur, die Londoner Visitenkarte von Bertha Sander und eine Ausgabe der Schweizer Zeitschrift "Samenkörner" von 1925 mit ihrem Textbeitrag über Beleuchtung und Beleuchtungskörper. Jetzt ist eine Bleibe des Nachlasses in Berthas Heimatstadt gefunden. Sobald fertig gestellt, erhält das NS-Dokumentationszentrum die Auflistung des bei mir vorhandenen und des mir bekannten Materials. Später wird der Inhalt "meiner Bertha-Kiste" nach Köln gehen. Nur die schwarze Hutschachtel, in der Bertha früher einige sentimentale Schätze lagerte, die sie übrigens nie mehr anschauen mochte, sollte noch länger bei mir bleiben.
Icki Haag hat sie mir vor Jahren geschenkt. Auch das kleine Portraitfoto eines melancholischen Dagobert Peche, das als vielfacher Abzug der Wiener Werkstätten existiert, muss mich noch weiter begleiten.“

NS-Dokumentationszentrum
Appellhofplatz 23-25
Köln-Innenstadt

[ag; Quelle: Stadt Köln]