Foto: Schüler der Rheinischen Musikschule Köln untermalten die Gedenkveranstaltung mit Musik

"Der 3. März 2009 hat Köln verändert"
Zwei weiße Kerzen und ein Betonklotz erinnerten heute im Kölner Rathaus an den Archiveinsturz vor genau einem Jahr. Oberbürgermeister Jürgen Roters eröffnete exakt um 13:45 UHr, dem Zeitpunkt des Einsturzes 2009, die Gedenkstunde. "Fassungslos standen wir vor einem Jahr vor den Trümmern. Fassungslos zuerst und vor allem vor dem Tod zweier Menschen", betonte Roters in seiner Rede. "Der 3. März 2009 hat Köln verändert. Es sind Schäden entstanden, die nicht mit Geld und Sachleistungen auszugleichen sind", so Kölns Oberbürgermeister. Roters schlus jedoch auch kritische Töne an. Er erklärte, dass die täglichen Nachrichten über Unregelmäßigkeiten an den U-Bahn-Baustellen zu einem Vertrauenverlust in der Bevölkerung geführt hätten. "Der unbarmherzige Konkurrenz- und Preisdruck darf keine Entschuldigung dafür sein, an Qualität und Solidität und damit an der Sicherheit zu sparen", sagte Roters.

Es sei nun an der Zeit, endlich die Verantwortlichkeiten für den Einsturz zu klären. Dabei stellte Kölns Oberbürgermeister auch die Frage, ob der technische Vorstand der Kölner Verkehrsbetriebe noch das Vertrauen der Bevölkerung genieße. "Gehört es zu einem Neuanfang nicht auch dazu, den Platz frei zu machen?", so Roters. Er stellte jedoch auch die Bauüberwachung grundsätzlich in Frage. "Es darf nicht sein, dass es rechtliche Möglichkeiten gibt, die technische und hoheitliche Bauaufsicht immer weiter zu delegieren, bis sie schließlich in der Hand des Bauherren selbst liegt", so der Oberbürgermeister weiter. Wenige Wochen vor dem Einsturz habe man bereits einen erheblichen Waddereinbruch bemerkt. Geschehen sei jedoch nichts, dabei hätte die Bauaufsicht "alles tun müssen, die mögliche Gefahr zu bannen", erklärte Roters. Im Anschluss an die Rede wurden im Kölner Rathaus in einer Schweigeminute zwei Kerzen für die verstorbenen jungen Männer, Kevin und Khalil angezündet.


Foto: Gemeinsam sprachen die Seeslroger Holger Reiprich (l.) und Michael Meichsner ein Gebet für alle Betroffenen in Alt St. Alban.

Aktualisiert um 15:50 Uhr
Gemeinsames Gebet an Alt. St. Alban
Viele waren heute gekommen, um gemeinsam im Kölner Rathaus insbesondere der beiden jungen Männer zu gedenken. Zur Feier eingeladen waren die Hinterbliebenen von Kevin und Khalil, Mitarbeiter aus dem Historischen Archiv der Stadt Köln, Anwohner, dieihre Wohnungen beim Archiveinsturz verloren hatte, betroffene Geschäftsleute und Vertreter der betroffenen Schulen am Waidmarkt. Sie alle erinnerten sich heute in aller Stille an die Folgen des Einsturzes. Ein eingespielter Wort- und Musikbeitrag ließ die Geschädigten ihre Stimme dennoch erheben. Darin zusammengefasst wurden Stimmen direkt nach dem Einsturz und Rückblicke auf das Unglück, das jeder für sich ganz persönlich erlebte. Anschließend zogen die Gäste gemeinsam zur Gedenkstätte Alt St. Alban. Dort sprachen die beiden Seelsorger Holger Reiprich und Michael Meichsner ein Gebet  – für Kevin und Khalil, aber auch für ihre Hinterbliebenen sowie die Anwohner am Waidmarkt und die Helfer.

Aktualisiert um 16:15 Uhr
Die Rede von Oberbürgermeister Jürgen Roters im Wortlaut

Liebe Angehörige und Freunde von Kevin und Khalil,
liebe Bewohnerinnen und Bewohner der Severinstraße,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
liebe Besucherinnen und Besucher des Historischen Archivs,
liebe Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums der Kaiserin Augusta-Schule und der Schulen in der Umgebung,
verehrte Anwesende,

es gibt Tage, es gibt Ereignisse, es gibt Bilder, die sich schmerzhaft ins kollektive Gedächtnis eines Gemeinwesens einbrennen. Ein solcher Tag ist für uns der 3. März 2009. An diesem Tag stürzte innerhalb weniger Minuten das Historische Archiv der Stadt Köln ein. Zwei Menschen verloren in den Trümmern des Nachbarhauses ihr Leben. Die schmerzhaften Bilder stehen uns noch heute vor Augen. Sie haben das Gesicht unserer Stadt verändert, aber auch unser Lebensgefühl und unsere Selbstgewissheit. Ein Jahr ist nunmehr vergangen. Ein Jahr, in dem jeder von Ihnen und auch Ihre Angehörigen, Freundinnen und Freunde diese Bilder unzählige Male gesehen haben – sehen mussten. Sie haben darüber erzählt oder geschwiegen, Sie haben Alpträume oder sich bewusst erinnert. Sie haben versucht, das Unfassbare in Ihr Leben, in Ihren Alltag, in das Weiterleben einzubinden.

Ich danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind, um gemeinsam dieses Unglückes zu gedenken. Fassungslos standen wir vor einem Jahr vor den Trümmern. Fassungslos zuerst und vor allem vor dem Tod zweier Menschen. Für Kevin und Khalil ist das Wunder einer Rettung ausgeblieben. Zwei junge Männer, die das Leben noch vor sich hatten und die jetzt nicht mehr unter uns sind. Was bleibt, ist eine schmerzhafte Lücke. Wir werden gleich der beiden durch das Anzünden einer Kerze in der Minute des Einsturzes gedenken. Unsere Gedanken sind bei Ihnen, verehrte Angehörige, Freunde und Kollegen, bei allen, die Kevin und Khalil nahe standen.

Der 3. März 2009 hat Köln verändert. Es sind Schäden entstanden, die nicht mit Geld und Sachleistungen auszugleichen sind. Es geht um den Verlust von Sicherheit und Vertrauen. Das sind ideelle Werte, die für jeden Einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft unabdingbar sind. Der Einsturz des Historischen Archivs führt uns auf bitterste Weise vor Augen, wie zerbrechlich unser Leben und unser Wirken ist. Wir sind Schicksalsschlägen ausgeliefert; trotz aller Sorge und Planung können wir dem Unglück nicht entgehen. Katastrophen wie diese erinnern uns daran, dass wir Einzelne unser Leben letztlich nicht vollends selbst in der Hand haben. 

Aber es bleibt auch die Frage, ob das schreckliche Unglück vermeidbar war, ob es nicht hätte verhindert werden können. Wir haben – so schmerzlich das ist – noch nicht auf alle Fragen eine Antwort. Aber das hindert uns nicht, weiterhin und immer wieder Fragen zu stellen und ihre Beantwortung einzufordern. Solange dies nicht geschieht, werden wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger nicht zurückgewinnen. Die Ereignisse und Entwicklungen der letzten Wochen haben den Vertrauensverlust weiter wachsen lassen. Fast täglich erfahren wir neue Nachrichten über Unregelmäßigkeiten, ja kriminelle Machenschaften bei den Baumaßnahmen vor vier oder fünf Jahren. Wer von uns hätte sich vorstellen können, dass international handelnde Baufirmen in solch großem Umfang täuschen, manipulieren und betrügen, und dies bei Bauvorhaben, bei denen wir – wie beim Bau einer U-Bahn – höchste Sicherheitsstandards verlangen.

Diese Verantwortungslosigkeit hat uns großen Schaden zugefügt; zwei Menschen sind gestorben, Anwohner haben Hab und Gut verloren, das „Gedächtnis unserer Stadt“ ist in Schutt und Asche versunken. Der Ruf unserer Stadt ist weit über unsere Grenzen hinaus in Misskredit geraten. Wir dürfen die schlimmen Vorkommnisse nicht auf das Fehlverhalten einzelner Bauarbeiter oder nachgeordneter Mitarbeiter reduzieren. Manipulation und Betrug haben offensichtlich System, wie Ermittlungen an anderen Großbaustellen in Düsseldorf oder Bayern zeigen. Der unbarmherzige Konkurrenz- und Preisdruck darf keine Entschuldigung dafür sein, an Qualität und Solidität und damit an der Sicherheit zu sparen. Wie wir sehen, sind auch andere Städte und Regionen betroffen. Alles was jetzt aufgedeckt wird, ist kein reines „Kölner System“. Das Unglück hätte sich auch woanders ereignen können. Dies darf uns nicht entlasten, hier alles Erdenkliche zu unternehmen, die Unglücksursache akribisch zu erforschen.

Es ist höchste Zeit, die Verantwortlichkeiten zu klären und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Nur so können wir verloren gegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Ich betrachte es als meine persönliche Aufgabe, neues Vertrauen und neue Zuversicht zu wecken. Denn Vertrauen und Gewissheit sind lebensnotwendig. Keine Stadt, kein Gemeinwesen kann existieren ohne Zutrauen in das richtige Handeln von Institutionen und Personen.

Viele Menschen sind ungeduldig, sie haben kein Verständnis dafür, dass die Ursachenermittlung schon so lange andauert. Hier sind wir in den Händen der Staatsanwaltschaft und Ermittlungsbehörden, die ihre Untersuchungen mit größter Sorgfalt betreiben. Das ist richtig so und findet unsere volle Unterstützung. Und wir im Rat der Stadt haben ja auch gefordert, zunächst die noch in der Baugrube am Waidmarkt befindlichen Archivalien zu bergen, bevor ein Besichtigungsbauwerk zur Inaugenscheinnahme der eigentlichen Unglücksstelle errichtet wird. Nur mit einer klaren Ursachenanalyse können wir persönliches Verschulden zuweisen. Nur mit einer klaren Ursachenforschung sind wir imstande, alles dafür zu tun, dass sich das Unglück nicht wiederholen kann.

Es gibt Zweifel nicht nur der ordnungsgemäßen Bauausführung, sondern auch an der notwendigen Bauüberwachung und Kontrolle. Hier stellen sich zunächst Fragen grundsätzlicher Art. Das gesamte System der Bauaufsicht muss auf den Prüfstand gestellt werde. Es darf nicht sein, dass es rechtliche Möglichkeiten gibt, die technische und die hoheitliche Bauaufsicht immer weiter zu delegieren, bis sie schließlich in der Hand des Bauherrn selbst liegt. Ob die Bauaufsicht namentlich bei den Kölner Verkehrsbetrieben versagt hat, wird sich erst am Ende des Gerichtsverfahrens sicher sagen lassen. Und ich weigere mich, vorschnell ein Urteil über persönliche Schuld und individuelles Fehlverhalten zu treffen.

Aber im Februar 2009, wenige Wochen vor der Katastrophe am Waidmarkt, kam es in der Baugrube zu einem erheblichen Wassereinbruch – in der Nähe des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums. Die Bauleitung der KVB hatte die Gefahr erkannt und die Bauunternehmen eindringlich zur Abhilfe aufgefordert. Die ARGE hatte das anders beurteilt und nichts unternommen. Es geschah nichts, obwohl hunderte von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern in potentieller Gefahr waren. Hier hätte die Bauaufsicht und der technische Vorstand alles, aber auch alles tun müssen, die mögliche Gefahr zu bannen. Wer in dieser Situation zur Tagesordnung übergeht, hat mein Vertrauen verloren. Denn neben der juristischen Schuldzuweisung gibt es eine politisch-moralische Verantwortung. Sie kann kein Richter zuweisen; sie muss jeder ganz persönlich für sich selbst übernehmen.

So muss sich der technische Vorstand der KVB fragen, ob er noch das Vertrauen der Bevölkerung hat. Gehört zu einem Neuanfang nicht auch dazu, den Platz frei zu machen? Nützt er dem gesamten Unternehmen nicht mehr, wenn er sich seiner politischen Verantwortung stellt?

Der Einsturz am 3. März war eine Katastrophe für unsere kulturelle Identität, eine Katastrophe, die weit über die Grenzen der Stadt und unseres Bundeslandes hinausreicht. Ebenso wie unser Archiv europäische Bedeutung hat, so hat auch dieser Verlust europäische Dimensionen. Für unsere Identität als Kölner, als Deutsche und Europäer ist der Schaden fast unermesslich. Wie groß, das werden noch Generationen nach uns schmerzlich erfahren, wenn sie sich um die Geschichte unserer Stadt bemühen und feststellen, dass Teile der wertvollen und unersetzbaren Schriftstücke und Urkunden nicht mehr da sind.

Wir sind außerordentlich dankbar für die überaus große Hilfe und Unterstützung, die wir bundes- und sogar weltweit erfahren haben, um den noch aufgefundenen Bestandteil des Archivs zu retten und langfristig zu restaurieren.

Einen sicheren Hort zu schaffen für das, was uns geblieben ist von den Schätzen unserer Stadtgeschichte – das schulden wir dem Wirken der vergangenen Generationen, das schulden wir den Forschungsbemühungen zukünftiger Generationen, das schulden wir allen, die sich in diesen Tagen und in der Zukunft dem Archivgut widmen. Dazu gehören auch die zahllosen Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr und der Berufsfeuerwehr, des Technischen Hilfswerkes, der Polizei und der Rettungsdienste, die den größten Einsatz der Nachkriegsgeschichte bewältigt haben. Daher möchte ich noch während meiner Amtszeit der Archivleiterin den Schlüssel für den Neubau am Eifelwall übergeben.

Meine Damen und Herren,
auch auf Köln trifft der Ausspruch von Stefan Zweig zu: „Erst im Unglück weiß man wahrhaft, wer man ist.“ Das vergangene Jahr hat dies für viele von uns schmerzhaft gezeigt. Nicht umsonst spricht man von einem Trauerjahr, das Schmerz und Verarbeitung braucht, um die Zukunft wieder angehen zu können. Ich wünsche uns allen, dass wir es nun wagen, den Blick nach vorne zu richten und aus dem Wissen darum, wer wir sind, Kraft für die Zukunft zu schöpfen.

Cornelia Schlößer für report-k.de/ Kölns Internetzeitung