„Ich habe Glück gehabt – trotz alldem“
Horst Richartz (84) kann es immer noch kaum glauben, dass sein Vormund und seine einzige Vaterfigur in seinem Leben, Friedrich Tillmann, für den Tod von rund 70.000 Menschen mit verantwortlich sein soll. „Es ist einfach entsetzlich“, betonte der 84-jährige Kölner heute. Er selbst lebte von 1931 bis 1941 zehn Jahre im Waisenheim in Köln-Sülz, das Tillmann leitete. Richartz verdankt Tillmann viel. Der Waisenhausdirektor habe nicht nur die Nonnen besänftigt, sondern vor allem für eine gute Schulausbildung seiner Schützlinge gesorgt. Auch nachdem Richartz als schwer verwundeter Soldat aus dem Krieg zum Waisenhaus heimkehrte, nahm sich Tillmann seiner an. „Ich hatte sonst niemanden, zu dem ich gehen konnte“, erzählte Richartz heute. Der Waisenhausdirektor besorgte ihm einen Ausbildungsplatz bei einer Zimmerei und später einen Vertrag als Bauzeichner. Auch kam er ihn regelmäßig besuchen. „Ich habe Glück gehabt – trotz alldem“, sagt Richartz heute und dankt mit diesem Satz auch seinem Vormund.

Dass dieser Mann, der sein Überleben sicherte und sein Leben bestimmte, zugleich mithalf, das Leben von rund 70.000 Menschen zu beenden, ist für Richartz kaum vorstellbar. Hätte Tillmann im Waisenhaus doch gerade mit seiner Freundlichkeit und Wärme ein Gegengewicht zu den strengen Nonnen gebildet. Auch Gerti Klöckner erlebte Friedrich Tillmann als netten Herrn, der in ihrer Jugend gegen den Willen der Nonnen nach dem Gottesdienst verstohlene Blicke und Gespräche mit den Soldaten zuließ. HJ-Uniformen mussten sie beide höchstens bei offiziellen Anlässen tragen. Auch wenn es in Köln ein jüdisches Waisenheim gab, wohnten einige jüdische Kinder auch in Sülz. Mindestens von einem Mädchen ist belegt, dass ihr eine Deportation in eines der Konzentrationslager erspart blieb und sie noch heute in Deutschland lebt. Auch weitere Dokumente zeigen, dass Tillmann sich gegen die Nationalsozialsten zur Wehr setzte. So verhinderte er, dass die geistlichen Nonnen in seinen Waisenhäusern durch so genannte „braune Schwestern“ ersetzt wurden und weiterhin Kruzifixe in den Häusern aufgehängt blieben.


Foto: Die Zeitzeugen Gerti
Klöckner und Horst Richartz (r.) mit dem Autor Klaus Schmitz (m.)


Glaube an die Autorität statt Selbstbewusstsein

Gerade darum stellt sich die Frage, aus welchem Grund Tillmann die Arbeit als NS-„Euthanasie“-Beauftragter in Berlin annahm und sich damit an der ersten zentral organisierten Massenmordaktion im Nationalsozialismus beteiligte. Zum Opfer fielen der so genannte "T4-Aktion" mehr als 70.000 Kranke und Behinderte. Dieser Problematik widmet sich auch der Autor Klaus Schmidt in seiner nun erschienen Biografie. Er beleuchtet darin das Leben Tillmanns von seiner Jugend in Mülheim bis hin zu seinem Tod. Dabei geht es ihm nicht um eine Schuldzuweisung oder Verurteilung Tillmanns, sondern gerade um die Frage, wie ein sozial engagierter und christlich geprägter Mensch in der Maschinerie untergehen konnte. Schmidt vermutet dahinter ein verkümmertes Selbst Tillmanns, der dies über die Identifikation mit einer autoritären Institution – Kirche und NS-Regime – zu kompensieren suchte. Diese Antwort scheint auch Tillmanns Frau zu ahnen. Tagebuchaufzeichnungen und Gedichte zeigen, sie hat von der Arbeit ihres Mannes gewusst oder sie zumindest erahnt. Gutheißen tat sie sie nicht.

„Ich habe aus Mitleid gehandelt“
Tillmann selbst gab in einem späteren Verhör an: „Ich habe aus Mitleid gehandelt“. Ob er davon wirklich überzeugt war, lässt sich heute kaum noch feststellen. Dokumente belegen, dass er den Hinrichtungen teilweise selbst beiwohnte. Seine Hauptaufgabe bestand jedoch darin, die Abläufe der Tötungen zu organisieren. Denn unter seinem Vorgänger war so manche „Unachtsamkeit“ geschehen. So wurden einer Familie etwa zwei Urnen für einen Verstorbenen geschickt. Von Berlin aus strukturierte Tillmann in den Jahren 1940 und 1941 nun die Transporte und Tötungen der rund 70.000 Kranken in insgesamt sechs Anstalten in ganz Deutschland. Wer als „erblich belasteter“ psychisch Kranker oder geistig Behinderter mit eingeschränkter Arbeitskraft eingestuft wurde, der galt als nicht therapiefähig und war somit eine Last für die Gesellschaft. Nach 1941 ließ das NS-Regime die Hinrichtungen aufgrund zu großem Druck aus der Bevölkerung zumindest offiziell wieder abschaffen. Inoffiziell wurden sie jedoch fortgeführt.

Tillmann kehrte nach 1941 in seine Waisenhäuser nach Köln zurück. Nach dem Krieg wurde seine Mitarbeit als „Euthanasie“-Beauftragter jedoch aufgedeckt. Am 12. Februar (Aschermittwoch) 1964 schließlich berichtete ein Artikel in der Lokalpresse, Tillmann werde wegen Beihilfe zur Tötung von 70.000 Menschen angeklagt. Am selben Tag stürzte er gegen Mittag aus dem 8. Stock des damaligen Bundesverwaltungsgerichtes am Rudolfplatz. Die Polizei  bewertete Tillmanns Tod als Unfall.

Infobox
„Ich habe aus Mitleid gehandelt – Der Kölner Waisenhausdirektor und NS-„Euthanasie“-Beauftragte Friedrich Tillmann (1903 – 1964)“
Klaus Schmidt
Metropol Verlag
1. Auflage 2010

ISBN: 978-3-940938-71-8

Cornelia Schlößer für report-k.de/ Kölns Internetzeitung
[Foto des Waisenhauses: Privat]