Köln | Wahlabende sind Abende mit vielen, vielen Zahlen und da können relevante Zahlen schon einmal untergehen. Dabei sind es zwei Zahlen, die besonders aufhorchen lassen müssen. Jörg Schönenborn von der „ARD“ präsentierte diese beiden Zahlen nicht zum ersten Mal. Wer diese Zahlen nüchtern reflektiert und analysiert reibt sich die Augen, ob der Selbstgefälligkeit des Polit- und Medienbetriebs und die politische Verwirrtheit. Ein Kommentar von Andi Goral.

Diese Zahlen gibt es auch im Westen

Es war der 8. Oktober 2023. Da war Landtagswahl in Bayern. Schon damals zeigte Schönenborn diese Zahlen. 47 Prozent sagten in der Nachwahlbefragung in Bayern, dass sie die AfD aus Überzeugung wählten und nur 46 Prozent aus Enttäuschung über andere Parteien. Schon hier deutete sich an, dass die AfD nicht mehr mit dem Siegel klassische Protestpartei abgekanzelt werden kann. Und es ist nicht der Osten, sondern die AfD schöpfte Wählerinnen in Bayern von CSU, Freien Wählern, FDP und SPD ab. Und sie konnte Nichtwähler aktivieren.

Bild verfestigt sich

Bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen verfestigt sich dieses Bild. So sagten in der „ARD“ Nachwahlbefragung 50 Prozent (+10 Prozent) sie hätten die AfD aus Überzeugung gewählt und 43 Prozent (-9) aus Enttäuschung über andere Parteien. In Thüringen sagten 51 Prozent (+27) der Menschen, dass sie die AfD – trotz oder wegen Höcke – aus Überzeugung gewählt haben und nur 41 Prozent (-12) aus Enttäuschung über anderen Parteien.

Die erste und einfachste Erkenntnis daraus ist: Die Zeit das Narrativ zu nutzen, die AfD sei die Partei der Protestwähler:innen ist vorbei. Es stellt sich mehr die Frage: War es jemals richtig? Dennoch ist es überall zu hören. Die Wähler der AfD wählen diese Partei aus Überzeugung. Und ihre Partei verfügt in Thüringen über eine Sperrminorität. In Sachsen lässt der Landeswahlleiter noch einmal die Berechnung der Sitzverteilung überprüfen, denn dort verfügte nach der ersten Berechnung die AfD eine Sperrminorität. Nach der erneuten Berechnung schafft die AfD es in Sachsen nicht eine Sperrminorität zu erreichen und damit etwa Entscheidungen für die eine Zweidrittelmehrheit im Landtag nötig sind zu blockieren.

Die AfD verfolgt ein ultrarechtes und rassistisches Weltbild. Das ist unstrittig und wird von deren Spitzenvertretern auch gar nicht geleugnet. Warum auch, ihre Wähler stehen aus Überzeugung hinter dieser Partei, siehe „ARD“-Zahlen. Und das nach Aufklärung durch die „Correctiv“-Recherche zum Thema „Remigration“ sowie nach den großen Demonstrationen für Demokratie im Frühjahr dieses Jahres. Alle Appelle von Kirchen, Unternehmen oder gesellschaftlichen Institutionen halfen nichts, die AfD-Wähler:innen sind überzeugt von den Positionen ihrer Alternative und dabei ist fraglich, ob sie wirklich das Parteiprogramm gelesen haben. Sie rennen dem Heilsversprechen hinterher, dass ein Land nationalistisch und rassistisch geführtes Land, der eigenen Bevölkerung automatisch guttut. Das erzählt ihnen aber nicht nur die Partei, sondern deren begleitende alternativen Medien, die sich so selbst etablieren konnten.

Appelle zum Zusammenhalt der Demokraten

Es gab Appelle, dass Demokraten zusammenhalten müssten, vor der Gefahr, die dem Land droht. Aber es kommt genau anders. Vor allem die Unionsparteien attackieren immer heftiger die anderen Demokrat:innen – Stichwort Grüne, wollen punkten mit den Themen der AfD. Das Kalkül der demokratischen Parteien geht nicht auf. Das zeigen die Zahlen der „ARD“ zur Gesinnung. Sie stärken die Gesinnung der AfD-Wähler:innen und schwächen die Potentiale der Demokrat:innen. Ihre permanenten unsubstanziellen Polemiken schädigen nur sie selbst und zwar alle. Die Unionspolitiker:innen freuen sich auch noch über das schlechte Abschneiden von SPD und Grünen und merken anscheinend gar nicht, dass ihnen damit demokratische und kompromissbereite Koalitionäre verloren gehen. Nicht, weil die mit ihnen nicht koalieren wollen, sondern, weil die Zahlen das nicht mehr hergeben.

Und jetzt

„Potentiae causa potentiae“, also „Macht um der Macht willen“ ist das Signal an das Wahlvolk. Die CDU erhebt in Thüringen und in Sachsen den Machtanspruch. Das dürfte die Überzeugten AfD-Anhänger wenig überraschen und nicht in die Mitte zurückbringen, sondern vermutlich eher deren Weltbild festigen. Die alternativen Medien werden dies im Nachgang der Wahl entsprechend in die Gehirne der AfD-Wählenden programmieren und diese das via Social Media exponentiell verbreiten.

Die CDU und die CSU sind Sammlungsparteien des christlich bürgerlichen Lagers, die sich vor allem auch durch ihre gemeinsame antisozialistische Ausrichtung definieren, auch wenn die Union keine Programmpartei ist. Offen ist derzeit, wie ihre Wählerklientel auf Koalitionen mit der Linken und dem BSW reagieren werden, auch wenn sich die CDU immer das Selbstverständnis der „natürlichen“ Regierungspartei gibt und gab? Heiligt der Zweck „Regieren“ alle Mittel oder wird es neue Enttäuschte geben, die dann Überzeugte der AfD werden? In der öffentlichen Debatte findet sich bereits die Definition der „schwierigen Regierungsbildung“ und sicher hilft dabei das Argument, dass so eine demokratische Regierung gebildet werden kann.

Aber was passiert wenn CDU mit Linken und BSW koaliert

Die Real- und Machtpolitiker setzen die Koalitionen zwischen CDU, Linker und BSW um, als eine Annahme. CDU-Mann Voigt in Thüringen missachtet das Gebot, der AfD den Vortritt zu lassen, das Höcke für sich am gestrigen Wahlabend als stärkste Kraft immer wieder reklamierte und das medial in Frage gestellt wurde mit der Begründung, dass es im Vorfeld Absagen an die AfD gegeben habe. Zu Beginn der Wahlberichterstattung wurde nicht einmal die Mehrheit einer Koalition von AfD und CDU in Thüringen gezeigt. Bier auf die Mühlen der Rechten.

Die AfD hat den Wandel von einer radikalen Randerscheinung, gelabelt als Protestpartei, zur Partei der Überzeugten vollzogen. Und sie schöpft aus allen politischen Reservoirs von links bis rechts, weil sie das Nationalbewusstsein aufgreift und damit wirbt. Bestes Beispiel: Die Asyl- und Migrationsdebatte.

Auffällig war am gestrigen Abend das Werben Höckes für den Parlamentarismus. Eine Spiegelfechterei Höckes? Höcke wusste, dass mögliche Koalitionäre im Vorfeld der Wahl der AfD eine Absage für eine mögliche Koalition erteilten. Vor allem unter seiner Führung. Ausgerechnet in diesem Moment fordert Höcke eine Stärkung des Parlamentarismus. Dabei ist Konservativen schon immer das parlamentarisch-demokratische System sagen wir einmal heutzutage zumindest suspekt. Sie wünschen sich einen autoritären Staat. Höcke kann dem Parlamentarismus das Wort reden, da er genau weiß, dass die anderen Parteien, die Gepflogenheit die stärkste Fraktion nach einer Wahl als führend anzusehen in seinem Fall und der AfD ignorieren werden. Jens Spahn, CDU, sagte heute im Morgenmagazin des „ZDF“ zu Thüringen: „Mario Vogt wird die nächste Regierung anführen. Das ist der Auftrag aus diesem Wahlergebnis.“ So kann Höcke seinen überzeugten Wähler:innen erklären, dass der in Deutschland gelebte Parlamentarismus eine Farce der von ihnen sogenannten „Kartellparteien“ sei. Den schwarzen Peter weist er damit den klassisch demokratischen Parteien zu und kann in einem Zug den Parlamentarismus diskreditieren, ohne selbst ausfällig zu werden.

Demokraten machen sich selbst schlecht

Und dann das Ampel-Bashing durch Opposition, Rechte und Medien. Und die Ampel-Parteien rechtfertigen sich. Für was eigentlich? Für eine soziale Politik? Für eine Politik, die versucht den Transformationsprozess hin zu einer Gesellschaft, die ihre natürlichen Ressourcen weniger schädigt? Politik in Zeiten von Pandemie und Krieg? Hier können Themen ohne Ende ergänzt werden.

An vorderster Front agiert hier mit hämischer Freude die Union und treibt der AfD die Wähler:innen zu, die dafür nicht einmal eine Heilslehre braucht. Es reichen Stichworte und schon wählen junge Männer und finanziell schlecht gestellte Menschen aus der Kleinbürgerklasse die AfD. Neben denen, denen es gut geht. Den Mindestlohn führte nicht die AfD ein. Das Bürgergeld, auf das die Konservativen der Union einprügeln, stammt nicht aus ihrer Feder. Wer als Mensch, dem es finanziell nicht gut geht, die AfD wählt, zeigt politische Ahnungslosigkeit. Wer glaubt, dass, wenn alle Menschen mit internationaler Familiengeschichte Deutschland verlassen haben, es ihm besser gehe, der hat nicht verstanden, dass es die gleiche Not wie seine eigene ist, die alle schwächt und er der Idee des Kannibalismus anhängt, denn das ist er einzige Ausweg.

Der AfD gelingt es den Furor der nationalistischen Aufwallung anzustacheln, die Desorientierung zu potenzieren und die heile Welt und die Sehnsucht danach beim deutschen Kleinbürger zu befriedigen. Das Hauptproblem ist aber nicht nur die AfD, sondern die Demokraten, die ihre Themen multiplizieren und versimplifizieren in dem Wunsch selbst von dieser politischen Stimmung zu profitieren. Die Wahlen in Thüringen und Sachsen zeigen, dass dies nicht funktioniert, sondern nur die AfD stärkt. Kurt Tucholsky fragte in seinem Gedicht „Deutschland, erwache“ im Jahr 1930: „Daß der Nazi dir einen Totenkranz flicht: Deutschland, siehst du das nicht?“. Es ist an der Zeit, die politische Verwirrtheit in den Parteien und Medien, sozialen Netzwerken zu beenden und klar inhaltlich zu argumentieren. Es reicht nicht aus nur mit Schlagworten wie „Nazi“ oder „Rechtsextremist“ in der politischen Debatte zu kontern, sondern erfordert vor allem an die Wähler:innen klare inhaltliche Botschaften dessen was die Politik für sie umgesetzt hat und umsetzen wird. Der größte Feind des Populismus ist Klarheit, Wissensvermittlung und soziale Gerechtigkeit. Das stabilisiert eine Demokratie und nicht ein Demosamstag.